Das große Fressen

Das große Fressen

Das erste große Frühlingsfest wirft seine herzgesundheitsgefährdenden Schatten voraus. Und die Frage auf: Wie viel hemmungsloses Geschlemme ist in einer scheinbar immer genussfeindlicheren Kultur eigentlich noch erlaubt?

Das große Fressen

Und alle Jahre wieder: Ostern. Kirchenfest. Familienfest. Fest der Völlerei. Um letztgenannte, christliche Todsünde, wird es diesmal in erster Linie gehen, um das gemeinsame Zelebrieren selbiger auch – aber ich muss, wie so oft, ein wenig ausholen. 

 

Ich liebe Kochbücher. Am allermeisten solche, bei denen ich beim Durchblättern automatisch starken Speichelfluss entwickle. Kochbücher, die schwer und dick sind, in denen das Leben anhand von Gerichten gefeiert wird, die ein Hauch Dekadenz umweht. Mein absolutes Lieblingskochbuch stammt etwa vom großen Paul Bocuse, es nennt sich „Die neue Küche“. 460 Seiten, vollgepackt mit Rezepten, in denen kiloweise Butter, Zucker, Blätterteig, Trüffel und Meeresfisch zur kulinarischen Perfektion gebracht werden. Es ist die pure Dekadenz. Die Bibel des Hemmungslosen.

 

Mir ist bewusst, dass schon alleine das Wort „Dekadenz“ bei vielen Menschen Schnappatmung auslöst. Man sagt es nicht laut. Und schon gar nicht kocht man so. Den besten Beweis dafür liefert ein Besuch in einer modernen Buchhandlung. Oder auf der Website von Kaisergranat, auf der regelmäßig die Kochbuch-Bestseller des Jahres aufgelistet werden. Ein Spaß, den ich mir vor nicht allzu langer Zeit wieder einmal gegönnt habe. 

 

Der Herr Henssler steht mit seiner „Schnelle Nummer“ am Stockerlplatz, gefolgt vom aktuellen Kochbuch-Wunderwuzzi Yotam Ottolenghi, dessen Kochbücher man ja mittlerweile fast so zwingend im Regal stehen haben muss wie den „Großen Gerer“ vor 15 Jahren. An dieser Stelle ist dann aber auch schon Schluss mit Spaß. Oder – Achtung, jetzt das Oage! – mit Genuss ohne Rücksicht auf Hüftumfang, Oberschenkeldellen, Karma oder Gehirnleistung.

 

Ein Auszug aus dem Ranking:

Platz 4: Die Ernährungs-Docs: Gesund und schlank durch Intervallfasten

Platz 7: Iss besser – einfach gesund kochen

Platz 9: Die Ernährungs-Docs: Zuckerfrei gesünder leben

Platz 14: Abnehmen garantiert – in 5 Schritten zum gesunden dauerhaften Wunschgewicht

Platz 15: 365 Low-Carb-Rezepte für ein ganzes Jahr

 

Wo war noch gleich das Buch mit dem Titel „Ich genieße, also bin ich“?

 

Verwunderung machte sich breit, die intuitiv mit einem Glas Gin Tonic runtergespült wurde, worauf ein Kontrollblick auf die Top 100 der Bücher „Kochen und Genießen“ bei Amazon folgte. Ergebnis: Mehr als zwei Drittel der Bücher befassen sich mit Diäten, mit Fasten, mit dem „Neuanfang mit Ayurveda“, „wie man von Zucker loskommt“, “intuitiv abnimmt“ oder „die Weisheit seines Körpers“ entdeckt. 

 

Einen kurzen Moment lang fühlte ich mich, vor allem mit dem Blick auf meine Osterfleisch-Bestellung beim Bauern des Vertrauens, schuldig, altmodisch und übergewichtig. Rinderzunge. Selchschopf. Krainerwürstel. Kaltgeräuchertes Filet. Vor meinem geistigen Auge taten sich schrecklich-schöne Bilder auf, von Fleischbergen und buttrigen Pinzen und Eiern und fettigem Käse und Kärntner Reindlingen. Völlerei! 

 

Oder?

„Wann ist Essen nach Herzenlust eigentlich zur Gefährdung geworden?“

 

Seit wann ist Essen ein Mittel zum Zweck geworden, um ein Schönheitsideal zu verwirklichen oder eine Gesundheit zu realisieren, die – und das ist sicher nicht zu leugnen – bestimmt einen gesunden (aber leider oft viel wichtiger: schlanken!) Körper verspricht, den genießenden Geist aber auf der Strecke lässt? Wo ist diese stabile, selbstverständliche kulinarische Basis, die ein ausgewogenen Verhältnis zwischen (hauptsächlich bitte mäßigem und verantwortungsvollem, manchmal aber eben auch hemmungslosem) Genuss und kulinarischer Qualität bietet?

 

Die Mäßigung und der Verzicht sind zweifellos Tugenden. Es ist nichts falsch daran, auf seinen Körper zu achten, sich eher fleischarm zu ernähren. Es ist sinnvoll, sich nicht mit Zucker vollzustopfen, bis der Arzt kommt, nicht in jede Sauce ein Packerl Butter zu kippen. Aber es muss, ja soll sie sogar geben, die Momente der Völlerei, weil sie den Geist und die Seele nähren.

„Die Völlerei aber mit Maßlosigkeit gleichzusetzen, ist in meinen Augen ein Fehler. Maßlosigkeit ist ein andauernder Prozess, Völlerei ist ein Ausbruch.“

Man kann sein ganzes Leben lang maßlos leben, aber nicht sein Leben lang völlern. Die Völlerei ist nur dann eine eben solche, wenn sie ab und an geschieht. Und man kann sie auch nur dann genießen, wenn man sich ab und zu mäßigt. Und ja: Die Völlerei zu Festtagen wie Ostern, das Teilen eines opulenten Mahls, kann auch ein Ritual sein, das uns zusammenbringt und uns einander näher bringt. So eine reich gedeckte Ostertafel ist etwas Einzigartiges, sie lässt, zumindest in meinen Augen, keinen Platz für Zurückhaltung.

 

Zum Schluss noch eine kleine, aber wichtige Randnotiz: Es gibt in dieser seltsamen, schönen und oft auch ziemlich grausamen Welt sehr viele Menschen, die sich den gerade angesprochenen, hemmungslosen Genuss nicht leisten können. Oder die niemanden haben, mit dem sie ihn teilen können. Meine Nachbarin Elke, 85 Jahre alt, alleinstehend, keine Kinder, ist eine solcher Mensch. Ich werde sie dieses Ostern, wie schon einige Male zuvor, zu einem opulenten Essen einladen. Wir werden schlemmen, wir werden gemeinsam lachen, wir werden guten Wein trinken, über ihre Vergangenheit und meine Zukunft sprechen.

Wenn Du eine Elke kennst: Nimm sie einfach mit auf diese Reise ins Land von Milch und Honig. Es wird die Seele nähren.


 

Stephanie Fuchs

Autorin

Stephanie Fuchs-Mayr

 

Stephie schreibt für uns die monatliche Gesellschaftskolumne und erzählt uns Geschichten, die in die Tiefe gehen. Und uns so zum Nachdenken anregen. Mehr über Stephie …

2 Kommentare
  • Gisela

    9. April 2021 at 10:38 Antworten

    Ich LIEBE diesen Artikel. Danke hierfür

  • Eva

    9. April 2021 at 11:24 Antworten

    Ich freue mich so sehr, danke für dein Feedback. Ich liebe Stephies Beiträge auch sehr!

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