Klartext im Jänner

Einsichten von Kathrin im Jänner

Weiß wie Schnee

Es muss angefangen haben, als ich mit fünf oder sechs Jahren versuchte, mir die Welt begreifbar zu machen. Jene besondere Phase des zaghaften Sich- Verknüpfens mit Dimension wie Raum und Zeit, deren fundamentale Größe nicht wirklich greifbar waren, ja, einschüchterten und die eigene Existenz winzig erscheinen ließen. Ein Kalenderjahr schien unendlich zu sein, die Summe der Tage kaum zu fassen und die Struktur der Monate verwirrend. Ich bastelte mir meine eigene Wahrnehmung, entwarf Behelfsmuster und erstellte Bezugsgrößen. Um die schiere Unendlichkeit der Zeit einzufangen, ordnete ich den Monaten Farben zu, orientierte mich dabei intuitiv an der Farbpalette der Natur.

 

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Den März pinselte ich im Gelb der Narzissen, den August blau wie den Sommerhimmel und das kühle, von Sonnencreme schlierige Wasser gekachelter Schwimmbäder. Für den Oktober wählte ich das leuchtende Orange herbstlicher Wälder und tauchte den November in nebliges Grau. Den Dezember kleidete ich gleich in drei Farben: das satte Grün der Weihnachtsbäume, das warme Rot verheißungsvoll funkelnder Kugeln und das feierliche Gold für all das Festliche und Strahlende.

 

Und dann gab es natürlich den Januar, den Beginn eines jeden neuen Jahres. Auf der Staffelei meiner Monate war der Januar leuchtend weiß. Weiß wie die schneebedeckten Felder und Wiesen rundum das Dorf meiner Kindheit und später weiß wie die blanken Seiten der neuen, unbeschriebenen Kalender meines Erwachsenenlebens. Sobald das Vorjahr im Rauch des Silvesterfeuerwerks zu Ende ging und mit einem Haken versehen werden durfte, rutschte es zur Seite und überließ dem Zauber des Neubeginns großzügig seinen Platz. Der Januar war der Monat der Möglichkeiten, bot Gelegenheit, sich auszuprobieren, Pläne zu entwerfen, Vorsätze zu schmieden, sich neu zu erfinden oder aber zufrieden genau dort anzuknüpfen, wo man im Dezember aufgehört hat. Geradezu verführerisch lockte die Unschuld des ersten Monats eines jeden jungfräulichen Jahres, das Versprechen Neues Jahr, neues Glück war allgegenwärtig und drückte dem Januar großzügig seinen Stempel auf.

„Aber dieser Januar ist anders.“

Diesmal überzieht ein gräulicher Schimmer das sonst so strahlende Weiß wie eine versehentlich in der Weißwäsche gelandete dunkle Socke. Schon das ganze letzte Jahr hatte sich diese Socke dauerhaft in die Wäsche gemogelt. Hatte den März und die Osterfeiertage um ihr unbeschwertes Gelb betrogen und trübe Begriffe – Social Distancing, Lockdown – wie schmutzige Fingerabdrücke zurückgelassen. Um sie loszuwerden, fehlten die Mittel. Trotz größter Bemühungen ließ sich die Socke nicht aussortieren, sie blieb, warf Schatten auf das unbeschwerte Blau des August. Urlaube wurden abgesagt, Besucherzahlen in Schwimmbädern und an Seen begrenzt, und selbst der Himmel war nicht mehr so weit, unendlich und frei, wie wir ihn kannten, weil Freiheit plötzlich limitiert worden war.

 

Im Oktober leuchteten die Wälder zwar golden, doch mit den steigenden Inzidenzwerten stieg die Sorge vor einem neuen Lockdown. Der kam im November. Das Grau war dunkler als sonst, trüb steigerte sich in den Gemütern zu trübsinnig. Die Sehnsucht nach einem goldenen Dezember wuchs ins Unermessliche, aber auch hier fehlte der übliche Glanz – ohne Weihnachtsmärkte, ohne Familienfeiern, ohne kuschelige Nähe. Das Gold schimmerte wie ein angelaufenes Schmuckstück, und niemand vermochte es blank zu polieren.

„Ratlos stehe ich nun zu Beginn des Neuen Jahres vor meiner Leinwand.“

Innerlich bereit, das gespannte Leinen mit bunten Pinselstrichen zu versehen, Pläne und Erwartungen für das kommende Jahr zu entwerfen. Aber es will nicht recht gelingen. Ungewissheit und Sorge lassen mich zögern, ziehen die Bremse, und ich komme nicht vorwärts. Stillstand ausgerechnet an dem Punkt, der sonst Startlinie für eine weitere Reise durch den Kalender, durch das Leben war.

 

Mehr rückwärts gerichtet als vorwärts, denke ich an einen Sonntagmorgen im Januar vor einigen Jahren zurück. Spontan hatten mein Mann und ich Schlitten, Thermohosen und Kleinkinder in den Wagen geworfen (letztere natürlich sehr sanft!) und waren in die Rhön gefahren. Etwa eine Stunde Autofahrt entfernt, hatte uns die Wasserkuppe mit schneebedeckten Hängen, Skipisten und Unmengen trubeliger Ausflüglern empfangen, die am Frühstückstisch wohl von der gleichen spontanen Idee erleuchtet worden waren wie wir. Unsere Stimmung trübte das nicht.

 

Mein Mann sauste mit der damals dreijährigen Tochter auf dem Holzschlitten den Berg hinunter, und es war nicht ganz ersichtlich, wer von den beiden das Kind und wer der Erwachsene war. Ich folgte ihnen gemäßigt auf dem zweiten Schlitten, vorsorglich die Fersen im Schnee, hielt ich doch das kleine Söhnchen in der Bauchtrage, das schnarchend seine erste Schlittenpartie verschlief. Mein inneres Kind jauchzte leiser als das meines Mannes, aber es jubelte dennoch tief in meiner Brust, wie man eben jubelt, wenn man auf Kufen einen Schneehang hinunter flitzt.

Die Erinnerungen an diesen Tag sind lebhaft und herrlich bunt. Ich sehe die von der Winterkälte gefärbten Apfelbäckchen meiner Kinder. Ich höre das aufgeregte Kreischen, sobald das Gespann aus Mann und Tochter über kleine Schanzen fliegt. Ich spüre das kurze Stolpern meines Herzens, wenn ihr Schlitten in der Luft steht und mütterliche Sorge mir Visionen von Trümmerbrüchen in die Gedanken schubst, die sofort nach der sicheren Landung der beiden Schlittenpiloten wieder verschwinden. Ich spüre das Gewicht meines Sohnes, spüre die Tragegurte trotz des dicken Anoraks in meine Schultern schneiden und die Wärme seines Körpers, den Komfort dieser putzigen tragbaren Mini-Heizung.

 

Ich schmecke das merkwürdig Grün der Erbsensuppe in der Vesperhütte und das Rot des Früchtepunschs, der uns die klammen Hände wärmt. Wie von selbst hat sich dieser Tag damals als farbenfrohe Erinnerung gemalt, ein gewöhnlicher Januarsonntag, der zu einer bunten Komposition puren Lebens wurde. Ein Leben, das aktuell unmöglich scheint, weit weg vom gesetzlich Erlaubten und moralisch Vertretbaren.

 

Und so stehe ich zu Beginn dieses neuen Jahres vor meiner grau überschatteten Leinwand, noch immer ratlos, was ich malen und planen, wie ich Erinnerungen schaffen soll, für meine Kinder, unsere Familie, mich selbst. So starr meine Hand mit dem ohnmächtig ruhenden Pinsel auch sein mag, brodelt doch der eiserne Wille, das fade Grau nicht gewinnen zu lassen, stampft trotzig der Wunsch auf, die lebendigen Farben nicht verblassen zu lassen und unermüdlich nach neuen Nuancen zu suchen. Kräftige Akzente, die durch den Grauschleier leuchten, bis er irgendwann verschwindet. Bis die Farben in ihrer ganzen unbeschwerten Schönheit zurückkehren.

„Das Weiß des Januars, das Gelb des März und das Blau des Augusts. All die bunten Farben unseres Lebens. Lasst uns gemeinsam malen. Besonders in diesem Jahr.“


 

Autorin

Kathrin Waiz

 

Kathrin ist diejenige, die Worte für das Unaussprechliche findet. Und für das Blödsinnige, das intensiv Alberne und das erschreckend Traurige. Mehr über Kathrin Waiz…

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