Klartext im Juni

Einsichten von Kathrin im Juni

Den Kompass kalibrieren

Hallo, mein Name ist Kathrin und ich bin in einem wilden Wolfsrudel aufgewachsen. Zugegeben, das klingt im ersten Moment nach der Vorstellungsrunde einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit pathologischen Lupus-Phantasien oder einem Lesekreis von Rudyard Kiplings Dschungelbuch. Tatsächlich beschreibt der Satz einfach nur meine Kindheit. Wilde Wolfsrudel zeichnen sich durch gutes Teamwork, engen Zusammenhalt und innige Gemeinschaft aus. Rangordnungskämpfe wie bei ihren Verwandten in Tierparks, sind eher selten. So war das auch in meiner Familie. Eine Gemeinschaft, in der jeder seinen Platz kannte: Alphaweibchen und -männchen als angesehenes Führungsduo schafften Futter herbei, passten auf, dass keine Welpen verloren gingen, und bemühten sich um die Bindung innerhalb der Gruppe. Gemeinsames Heulen zeigte: Wir gehören zusammen.

 

Unser Rudel war sich meist selbst genug, gerne unter sich und suchte wenig Kontakt zu anderen Artgenossen. Als es für uns Jungwölfe Zeit wurde, eigene Wege zu gehen, lösten wir uns nicht sofort aus der behüteten Gemeinschaft. Nach dem Verlassen der Wolfshöhle, Pardon, des Elternhauses, bezogen mein Bruder und ich eine gemeinsame Wohnung in der Stadt. Abnabelung light, mit sicherer Nähe zu mindestens einem Rudelmitglied.

 

Um keine falschen Illusionen zu wecken, sei versichert, dass meine Kindheit selbstverständlich nicht perfekt und ohne Turbulenzen verlaufen war. Die Vorstellung einer perfekten Familie ist eben genau das – eine überzeichnete Illusion. Auch bei uns wurde gestritten, ums Essen gebalgt, wurden zornig Zähne gefletscht. Aber in der Summe lagen wir am Ende des Tages dann doch friedlich zusammen, froh, einander zu haben und dankbar für das beruhigende Gefühl, dass unserer kleinen Gemeinschaft nichts passieren würde, solange wir nur alle zusammenhielten und aufeinander achtgaben.

„Genau dieses Gefühl – Familie als safe place mit lebenslanger Beständigkeitsgarantie – ist eine der wertvollsten Erinnerungen an meine Kindheit.“

So kostbar, dass ich sie als Schatz in einer goldbeschlagenen Schatulle in meine eigene Familie tragen will. Mittlerweile selbst in der Rolle des Alphaweibchens angekommen, möchte ich meinen Kindern einen Ort erschaffen, der nicht durch geographische Koordinaten, sondern durch die Menschen bestimmt wird, die dort verweilen. Der safe place ist überall da, wo die Familie ist. Meine Kinder sollen an diesem Ort Schutz, Trost, Rat und Bestätigung erfahren dürfen, wann immer aufbrausende Stürme ihnen harsch ins Gesicht blasen.

 

Klingt pathetisch und zugegebenermaßen ein bisschen nach einem kitschigen Schnulzenroman, in dem imaginäre Schatullen mit Familiengeheimnissen von Generation zu Generation weitergereicht werden. Und ganz ehrlich? So ehrenwert meine Absichten sein mögen, fabulieren sich Theorien über sichere Häfen wesentlich leichter, als sie in der praktischen Umsetzung sind.

 

Dem Vorbild meiner Eltern zu folgen, ohne deren Fehler zu begehen, die ihnen natürlich wie allen Eltern von Zeit zu Zeit unterlaufen waren, erweist sich nämlich durchaus als besondere Herausforderung. Wie gelingt die Balance zwischen Nähe und Enge? Wie stark darf der Fokus auf die Kernfamilie gerichtet sein, ohne Gefahr zu laufen, den Blick für alles außerhalb der eigenen Bande zu verlieren? Und was tun, wenn es knirscht im Gefüge, wenn das Rudel mehr Zeit damit verbringt, sich mit scharfen Krallen die Augen zu zerkratzen, statt voneinander zu lernen, aufeinander zu achten und respektvoll im Umgang zu bleiben? Hab ich dann versagt? Ist das ambitionierte Projekt safe place gescheitert?

 

Fakt ist: Meine Kinder liegen altersmäßig auf einem Niveau, das keinerlei Gedankenspiele vorsieht, das Rudel in absehbarer Zeit zu verlassen. Sie orientieren sich an mir, folgen meinen Schritten, manchmal sogar konsequent bis auf die Toilette – natürlich nur, um dort mit selbsterfundenen Witzen selbstlos zu meiner Unterhaltung beizutragen. Sie vertrauen mir, dass ich sie sicher durch den Alltag navigiere, zur rechten Zeit in die Schule schicke oder pünktlich aus dem Kindergarten abhole. Meine Hilfe ist gefragt, wenn Hildchen orientierungslos am Klettergerüst festhängt oder sich Oskis Lego-Raumschiff nach der Bruchlandung nicht mehr zusammensetzen lässt. Brausen erste verstörende Stürme durch ihre Kinderseelen – Oskis bester Freund kündigt ihm nach einem Zwist die Freundschaft, Hildchen wird auf dem Schulhof verspottet – suchen sie bei mir Trost. 

„In meiner Rolle als Alphaweibchen befinde ich mich aktuell in einer relativ sicheren Spitzenposition und habe noch einigen Jahre Vertragslaufzeit vor mir.“

Fakt ist aber auch: Meine Kinder haben schon seit frühestem Welpenalter rebellische Ambitionen entwickelt. Nicht selten sind sie auf Krawall gebürstet und empfinden unseren harmonischen Kokon als unzumutbare Folterstation, nur dazu ausgelegt, Kinder mit unsinnigen Regeln zu knechten. Nur weil man sie höflich bittet, die Kunststofffensterrahmen nicht mit Filzstiften vollzumalen. Besonders mein Söhnchen plustert sich gerne als Alphamännchen auf und glaubt, in seinen mittlerweile fünf Lebensjahren, ausreichend Expertise für die Führung unseres Rudels gesammelt zu haben. Bei sanftem, aber nachdrücklichen Verweis auf die tatsächliche Rangordnung, zögert er nicht, mit rigorosen Konsequenzen zu drohen, von denen die schlimmste ist, mich nie wieder zu seinem Geburtstag einladen zu wollen.

 

Ich bin ernüchtert, wenn der Frieden in unserer kleinen Gemeinschaft nicht funktioniert. Dann frage ich mich, wie das mit harmonischem Miteinander denn global gelingen soll, wo doch unser kleines Rudel schon darum ringt, ohne dass bei uns entzweiende Religionsfragen, strittige Ölmonopole oder diktatorische Machtphantasien im Spiel sind.

 

Auch mein Vater hatte einst zu Krisenzeiten Sorge, dass unsere Gemeinschaft internen Kämpfen nicht standzuhalten vermochte. Unermüdlich bestärkte er uns dann mit sanften Parolen. 

Wir sind die kleinste Einheit. Wir müssen zusammenhalten. Wir dürfen uns nicht im Streit zerfleischen. Wir sind doch eine Familie.

Klartext Juni

Ich habe mir alle seine wispernden Worte gemerkt. Und flüstere sie nun selbst. Meine eigenen Sprösslinge lassen derartige Affirmationen jedoch bislang völlig unbeeindruckt. Trotz der oftmals ernüchternden Faktenlage halte ich daran fest, dass das Projekt safe place langfristig gelingen wird. Schließlich ist es überhaupt nicht nötig, vierundzwanzig Stunden am Tag in einer friedvollen IKEA-Prospekt-Idylle zu verweilen. Wenngleich etwas mehr Harmonie bei der Rudelarbeit sicher helfen würde, die alltäglichen Herausforderungen von innen und außen zu managen.

 

Denn Herausforderungen gibt es immer. Eine Gemeinschaft, egal wie klein, ist nicht statisch, sondern lebt von ihrer Dynamik und stetem Wandel. Weil sich jeder von uns ständig individuell (weiter-)entwickelt, verändert sich auch unsere Familie. Die massivsten Wachstumsprozesse finden naturgemäß bei den Kindern statt. Nicht nur Beine und Arme expandieren dann plötzlich aus dem Lieblings-Spiderman-Schlafanzug und der niedlichen Katzenlatzhose. Auch neu zutage tretende Bedürfnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen fordern Raum und Beachtung, wollen verstanden, akzeptiert und geachtet werden. Da braucht’s Fingerspitzengefühl, um alles im Lot zu halten, um beruhigende Beständigkeit im Wandel zu vermitteln. Wenn das gelingt, ist die Basis schon mal recht vielversprechend, um daraus über die Jahre hinweg einen sicheren Hafen zu bauen. Denn die Kinder wissen, egal wie turbulent es zugehen mag, in der Familie finden sie den nötigen Halt. Immer. Bedingungslos. Ohne Gegenleistung.

 

Ungeachtet aller Fehler haben meine Eltern diese Hafensache verdammt gut hinbekommen. Wenn ich nicht weiterweiß, tippe ich in der Kurzwahl meines Handys Mama. Bin ich verzweifelt, stehe ich vor ihrer Tür. Dann braucht es nicht viele Worte, es genügt ein Blick und sie wickelt mich in eine dieser Umarmungen, die Schmerzen besser abklingen lassen als Paracetamol, die Pflaster auf Herzen kleben und »Alles wird gut« flüstern. Egal, wie weit entfernt ich von meinen Eltern bin, mein innerer Kompass ist noch immer auf sie kalibriert. Die Nadel schlägt in ihre Richtung, wenn ich orientierungslos bin, und weist mir zuverlässig den Weg zu meinem safe place.

 

Wenn meine Kinder sich eines Tages aus unserer Kernfamilie lösen, um eine eigene zu gründen, wünsche ich mir, dass in ihrer Schatulle auch ein Kompass steckt. Einer, der ihnen den Weg zu ihrem sicheren Hafen weist.

„Dort, wo die angegrauten Altwölfe immer einen Platz für sie freihalten.“


 

Autorin

Kathrin Waiz

 

Kathrin ist diejenige, die Worte für das Unaussprechliche findet. Und für das Blödsinnige, das intensiv Alberne und das erschreckend Traurige. Mehr über Kathrin Waiz…

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