Klartext im Mai

Einsichten von Kathrin im Mai

Was prickelt im Bauch

»Ich glaube, ich werde langsam eine Jugendliche«, sinnierte mein siebenjähriges Tochter neulich am Rollschuhplatz. Fasziniert beobachtete Hildchen eine Gruppe Teenager, die etwas abseits der asphaltierten Fläche herumlungerte. Inline-Skates, Roller oder Skateboards hatte die Gang nicht dabei, aber was Hildchen weitaus spannender fand als die fehlenden Fahrzeuge, auch keine Eltern. Sichtbar genossen die pubertierenden Jungs und Mädels ihre Freiheit ohne elterliche Aufsicht, nickten zur Musik aus der mitgebrachten Box, übertrafen sich gegenseitig mit dem inflationären Gebrauch von Schimpfwörtern, rotzten schaumgekrönten Speichel in abstrakten Mosaiken auf den Boden, spielten auf ihren Handys und ließen verstohlen eine Zigarette kreisen.

»Was glaubst du denn, wie es sich anfühlt, eine Jugendliche zu sein?«, wollte ich wissen und schnallte ihr fürsorglich den Helm unterm Kinn fest. »Na, fast so wie erwachsen.« »Verstehen. Und wie fühlt sich Erwachsensein an?« Hildchen überlegte. »Man darf machen, was man will. Und ein Handy haben.« »Wenn ich erwachsen bin«, quakte mein Vierjähriger dazwischen, »trinke ich jeden Tag Cola!« »Aber du hast doch noch nie Cola getrunken!«, gab ich zu bedenken. »Wie willst du denn wissen, ob es dir schmeckt?!« »Papa trinkt Cola. Es ist ein Erwachsenengetränk!«, belehrte mich der Knirps schlau. Handy und Cola.

 

Das sind sie also. Jene Attribute, die meine Kinder mit dem Erwachsensein verknüpfen. Wobei Hildchen sich dem Kern der Sache schon ziemlich scharfsinnig nähert. Man darf machen, was man will. Ziemlich verlockend.

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Verständlich also, dass es den Beiden gar nicht schnell genug gehen kann mit dem Erwachsenwerden. Groß wollen sie sein, selbstbestimmt und eigene Regeln festlegen, wie viel Schlaf sie benötigen (keinen), was sie trinken (Cola), was sie essen (Zucker in jeder beliebigen Darreichungsform), anziehen (das, was man die ganze Woche über schon erfolgreich getragen hat), wann das Chaos im Kinderzimmer ordnungsbedürftig ist (nie) oder noch eine Weile im müllähnlichen Zustand überdauern kann (ewig).

 

Natürlich verstehe ich ihr Sehnen. Ich war ja auch mal Kind. Und als Kind schmeckt die Freiheit, wie Erwachsene sie genießen, tausend Mal süßer als Limonade, und die Vorstellung, tun und lassen zu können, was man möchte, prickelt wilder im Bauch als handelsübliche Kohlensäure.

„Machen, was man will – der Inbegriff menschlicher Freiheit.“

Erwachsensein fetzt und beinhaltet eine ganze Fülle unbestreitbarer Vorzüge. Aber die besitzt Kindheit eben auch. Als jemand, der schon ziemlich lange erwachsen ist, weiß ich, wie unbeschwert in der Rückschau die Jahre sind, in denen keine Cola trinken zu dürfen, das schlimmste aller damals vorstellbaren Probleme war. Denn so sehr ich die mit Selbstbestimmung gefüllten Ballons genieße, die so herrlich autonom am Firmament meines Erwachsenenhimmels fliegen, gibt es eben auch eine Gegenkraft, die mich bleischwer am Boden hält. Diese Kraft lässt sich nicht mit physikalischen Einheiten messen, sondern einzig am subjektiv wahrgenommenen Gewicht, mit dem sie auf Erwachsenenschultern lastet. Diese Kraft nennt sich Verantwortung und variiert in den verschiedenen Stadien des Erwachsenseins.

 

Ich habe nach erfolgreich gemeisterter Adoleszenz viele der festzementierten Regeln meiner Eltern mit schwerem Gerät aus dem Boden gerissen und durch eigene ersetzt. Die erste Amtshandlung in der eigenen Wohnung bestand beispielsweise aus einem ausgiebigen Vollbad – an einem gewöhnlichen Wochentag und nicht, wie im Elternhaus üblich, samstags. Auch wenn die Badewanne mit den undefinierbar schnupfengelben Rändern eigentlich nicht zum langen Verweilen einlud. Es ging ums Prinzip und fühlte sich an wie ein Akt der Befreiung, wie das Abwaschen des Reglements meiner Kindheit. Selbst heute mit vierzig und mittlerweile im Besitz einer neuen makellosen Badewanne, in der außer mir, meiner Familie und wechselnder Playmobil-Besatzung niemand sonst liegt, fühle ich mich noch immer wie ein kleiner Rebell, wenn ich mich an einem schnöden Mittwoch in ein knisterndes Schaumbad lege, einfach nur weil mir danach ist. Es fühlt sich geradezu unglaublich an, den erlaubten Wasserstand meiner Kindheit (maximal knöchelhoch!) großzügig zu übersteigen und sogar warmes Wasser nachzulassen. Der Rausch der Selbstbestimmung ist ähnlich betörend wie beim Abschneiden des harten Pizzarands, den man ohne Scham an den Hund verfüttert. So berauschend wie der kühne Verzicht auf verhasste Nylonstrumpfhosen, trotz der Stimme meiner Mutter im Ohr, zu viel nacktes Bein sollte man niemandem zumuten. Besonders nicht, wenn die Beine so schief sind wie meine. Auch den ganzen Tag im Pyjama auf dem Sofa zu liegen und vor dem Fernseher zu essen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, ist einer der liebenswerten Vorzüge dieses Machen-was-man-will.

„Denn wie gesagt: Erwachsen sein fetzt ziemlich.“

Und hat man erstmal vom edlen Champagner der Selbstbestimmung gekostet und ist dem flirrenden Rausch anheimgefallen, eben verdammt nochmal zu tun, was man will, glaubt man vielleicht, das Gleichgewicht aus Selbstbestimmung und Verantwortung lässt sich nun dauerhaft so easy-peasy halten. Kleiner Spoiler: Tut es nicht. Denn eine Seite der Waage bekommt massives Übergewicht, sobald man das nächste Level anvisiert und sich entschließt, Kinder zu bekommen.

„Verantwortung für Fortgeschrittene.“

Als mein Mann und ich uns im Beisein eines Friedensrichters, dessen Frau und eines Schwarms Stechmücken an einem bahamaischen Strand romantisch im Sonnenuntergang das Ja-Wort gegeben hatten, versprachen wir uns nicht nur ewige Liebe, sondern natürlich auch, alsbald eine ganz fantastische Familie zu gründen. Mit Wind in den Haaren und pastelligen Phantasien im Kopf malten wir uns eine Zukunft aus, in der wir als beispielhaft relaxte Eltern geradezu tiefenentspannt eine Horde Knirpse um uns versammeln würden. Ein locker-flockiger Spaziergang durch Schwangerschaft, Kleinkinderjahre und Wackelzahnpubertät.

 

»Wie schwer kann das schon sein?«, flüsterten wir uns trunken vor Zukunftsglück in die frischvermählten Ohren. Rückblickend kann ich gar nicht so laut lachen, wie ich angesichts dieser Verblendung lachen möchte. Die Verantwortung für Kinder ist eine kaum zu fassende Größe, die hübsch verpackt in einem Übermaß an Liebe für die anfangs kleinen Winzlinge daherkommt. Das elterliche Hirn verknüpft sich mit dem vor Zuneigung überquellenden Herz und setzt alles daran, den Nachwuchs vor allem zu beschützen, was in dieser plötzlich so mit Gefahren überladenen Welt lauert: Koliken, Kummer, Keuchhusten, Sonnenbrand, Autos mit überhöhter Geschwindigkeit in der dreißiger Zone, einem Sturz vom Klettergerüst, Sommergrippe, Zeckenbissen, gemeinen Schulkameraden, Liebeskummer, einer Sechs in Mathe. Im schlimmsten Fall kann man seine Kinder vor nichts davon bewahren, aber das hindert Eltern nicht daran, es stoisch zu versuchen. Ohne zu zögern, laden sie sich die schier unermessliche Verantwortung für ihre Kinder auf, damit diese selbst keine tragen müssen, und von elterlicher Hand sicher durch Kindheit und Jugend laviert werden. Der Nachwuchs darf mit nach pädagogischen Maßstäben ausgewählten Luftballons schweben, immer an der sicheren Leine der Eltern, die – geknüpft aus Liebe und Verantwortung – unkontrolliertes Davonfliegen verhindert.

 

Eine Leine, die mein Hildchen nun zu gerne kappen möchte, um mehr und mehr verlockende Freiheiten zu bekommen. Deshalb zerrt und zupft sie mit ihren sieben Jahren schon an der Sicherheitsschnur. Erste Versuche, sich loszureißen und auf eigene Verantwortung davonzuschweben. Um die Süße von Cola auf den Lippen zu schmecken. Und das Prickeln der Kohlensäure im Bauch. Und ich kann sie verstehen, trotz meines Wissens, dass Erwachsensein manchmal eben auch einen bitteren Beigeschmack hat und hartnäckig an den Zähnen klebt.

Als wir vom Rollschuhplatz nach Hause liefen, meinte Hildchen:

„Mama, du hast heute auch ausgesehen, wie eine von den Jugendlichen.“ „Oh, wirklich?“, erwiderte ich und lächelte geschmeichelt. „Ja, du hast auf dem Boden gesessen und mit deinem Handy gespielt.“

Ich verriet ihr nicht, dass ich beim Lässig-auf-dem-Boden-Sitzen einen Elternbrief gelesen und nach Kinderzahnpasta ohne schädliche Inhaltsstoffe gegoogelt hatte. Mit dem bleischweren Gewicht der Verantwortung für ein Schulkind und zwei Milchzahngebisse auf meinen nicht mehr ganz so jugendlichen Schultern.


 

Autorin

Kathrin Waiz

 

Kathrin ist diejenige, die Worte für das Unaussprechliche findet. Und für das Blödsinnige, das intensiv Alberne und das erschreckend Traurige. Mehr über Kathrin Waiz…

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