Über achtsame Optimierer: Gedanken über den Achtsamkeitstrend
Wer als Durchschnittsmensch in eine moderne Buchhandlung geht, braucht nur wenige Augenblicke des Schweifens über die Buchrücken im Bestseller-Regal, um sich völlig „uninspired“ zu fühlen.
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Man sieht also erst mal erschrocken an sich selbst herab. Sieht ein kleines Bäuchlein, spürt nicht viel mehr als kalte Füße in feuchten Socken, effizient gearbeitet hat man zuletzt vor zwei Tagen (oder waren es drei?), und die Meditationsapp ist auch schon stillgelegt. Man schämt sich kurz inbrünstig, weil aber bedröppelt rumstehen in der Buchhandlung auch nicht so gut kommt, fischt man verlegenheitshalber doch ein Buch aus dem Regal.
In meinem Fall fiel die Zufallswahl auf ein Buch mit dem verheißungsvollen Namen „Mit Achtsamkeit zur Göttlichkeit“. Ich schlage also eine Seite dieses Buches auf und beginne zu lesen. Da steht:
„Im Zentrum der Zeit ist keine Zeit. Zeit ist nur in der Zukunft und Vergangenheit. In der Gegenwart ist keine Zeit. Da ist nur das Jetzt (…) Das Geheimnis der Zeit ist, dass du so viel Zeit hast, wie du wählst, zu haben (…) Rücksichtslos und egoistisch musst du dir die Zeit nehmen, um sie zu haben.“
Man kann das jetzt natürlich als esoterischen Humbug verbuchen, der nichts mit dem gewöhnlichen Menschsein zu tun hat. Man kann aber auch sagen: Das ist eine weit weniger unpopuläre Idee von Leben und Sein, als eine aufgeklärte Gesellschaft gerne glauben möchte. Eine Haltung, die völlige Konzentration auf das eigene Selbst propagiert, Fokus auf die eigene Befindlichkeit. Was man dem Leser hier (und in vielen anderen Büchern, die den Markt gerade überschwemmen) mit auf den Weg geben möchte, ist eine nach meinem Dafürhalten nicht ganz unkritische Botschaft, nämlich: Anstatt an den Verhältnissen, die mich stressen, wirklich etwas zu verändern, suche ich die Lösung in mir selbst. Ich stelle mein eigenes Wohlbefinden, meine eigene Lösung, über andere Belange. Die Worte „rücksichtlos und egoistisch“ sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Im Regelfall werden sie in diesem Kontext nur vorsichtig oder gar nicht verwendet. Man spricht lieber von Achtsamkeit. Weil das weniger ichbezogen klingt.
Die große Frage ist: Gibt es tatsächlich nichts wichtigeres – im Leben, in der Arbeit, in Beziehungen – als die eigenen Befindlichkeiten zu spiegeln und sich mit der Frage zu beschäftigen, was dem Selbst gut tut? Wie kommt es, dass sich so viele Menschen heute lieber damit auseinandersetzen, wie sie besonders energetisch wertvoll Gemüse schneiden, Blaulichtstrahlung effektiv aus den eigenen vier Wänden fernhalten, und Eigenschaften wie Herzensgüte und Nachsicht am besten sich selbst gegenüber an den Tag legen, als sich in mitunter komplexe, schmerzhafte, selbstkritische Beziehung zu anderen Menschen zu setzen?
Der guten Ordnung halber: Es ist grundsätzlich nichts falsch daran, sich mit Nachsicht und Zuneigung um sich selbst kümmern zu wollen, sich um das eigene Fortkommen zu bemühen, gesünder und bewusster zu leben. Im Gegenteil. In der richtigen Dosis halte ich das sogar für äußerst gesund. Macht uns das alles aber zu besseren Menschen? Die – ich nenne sie jetzt einfach „achtsamen Optimierer“ – sagen: Ja. Ich behaupte: Nein. Denn es führt mitunter dazu, dass wir in einem Akt der latenten Verzweiflung, den Summerton in unserem Bewusstsein zu bekämpfen, der uns ständig daran erinnert, dass das Gute niemals gut genug ist, nicht nur die eine oder andere wichtige und richtige Weltanschauung abreißen – sondern auch allzu Menschliches.
Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa, dessen Resonanztheorie von der Mehrheit der Achtsamkeitsbewegung äußerst kritisch betrachtet wird, antwortete in einem Interview mit „Ethik Heute“ auf die von der Fragestellerin ins Feld geführte Hypothese, dass Achtsamkeit ein Weg sei, mehr Autonomie zu gewinnen, weil man dadurch lerne, sich nicht von Gedanken und Emotionen beherrschen zu lassen, folgendermaßen: „Die Achtsamkeitsbewegung ist viel zu fixiert auf das Subjekt: „Wenn du nur innere Ruhe findest, Anhaftung überwindest, allem achtsam begegnest, wird alles gut.“ Das Ziel ist ein rein beobachtendes Bewusstsein, das sich nicht involviert, wo alles gleichmäßig betrachtet wird.
„Resonanz steht dem entgegen: Resonanz kann ich nicht allein durch mich schaffen – mit der richtigen Einstellung, sondern die Beziehung ist das Entscheidende. Ich muss die Beziehung betrachten, die Qualität der Beziehung. Ich muss in der Lage sein, da draußen eine andere Stimme zu hören und mich berühren zu lassen. (…)“
Bei der Achtsamkeit aber heißt es immer „Du musst allem mit der gleichen Ehrfurcht und Achtsamkeit begegnen, nicht bewertend, vorurteilsfrei. Das heißt, es spielt überhaupt keine Rolle, was auf der anderen Seite ist. Es ist eine massive Subjektzentrierung.“ Und damit hat er, finde ich, Recht.
Rosas Kritik ist auch deshalb ein so wertvoller Beitrag zum Thema, weil er meiner Meinung nach Achtsamkeit als das begreift, was sie ursächlich sein sollte. Achtsamkeit bedeutet nämlich nicht, sich von realen Bezugspunkten, realen Gefühlen der Welt und ihrer Verbindung zu Vergangenheit und Zukunft abzuspalten. Es bedeutet genau das Gegenteil. Es bedeutet hyper-aufmerksam zu ein. Und zwar nicht alleine sich selbst gegenüber.
Der achtsame Optimierer fragt sich ständig (oder lässt sich von Gleichgesinnten fragen, denn von Andersdenkenden halten sich die sehr Achtsamen gerne fern, und ich sage das, weil ich es selbst leider immer wieder erlebe): Wie fühlst du dich dabei? Gegen die Frage ist oberflächlich nichts einzuwenden, aber sie hat Tücken, weil: Die Frage, die ja ursächlich Angenommensein, Verstandenwerden, Zustimmung ausdrücken möchte, entfaltet auch als Technik zur Blockade Wirkung. Blockade vor Kritik und Zurückweisung, Blockade vor Verantwortung (das schließt in meinen Augen auch die Verantwortung für die Lebensrealitäten der Mitmenschen mit ein), Schmerz, und ganz generell vielen Gefühlen, die nicht ins holistische Wohlfühlstandardrepertoire passen. Angst. Melancholie. Müdigkeit. Erschöpfung. Zorn.
Der achtsame Optimierer möchte diese Zustände ausmerzen, anfangs bei sich selbst, mit fortwährender Dauer auch bei den Menschen, die ihn umgeben. Die mitunter ziemlich zornigen und verletzten und nicht perfekt funktionstüchtigen Menschen um ihn herum passen nicht in dieses neue Bild, und das macht den achtsamen Optimierer ratlos, weshalb er vom Meinungsaustausch gerne zur Missionierung übergeht. Ganz oft übersieht der achtsame Optimierer im Gespräch dabei Grenzen, die sich in der Menschheit nicht umsonst ziemlich lange als gar nicht so blöde Strategie erwiesen haben: Die zwischen Offenheit und Taktlosigkeit, oder die zwischen Ratschlag und Übergriff.
Es ist in dieser nach wie vor sehr komplexen Welt so einfach geworden, sich in den Mittelpunkt einer perfekt maßgeschneiderten, eigenen Welt zu stellen. Denn es gibt so viele Wege, den Anspruch nach Achtsamkeit und vermeintlichen Optimalzuständen zu verwirklichen. Wenn sogar das Brotkaufen im Bio-Supermarkt zum fast schon spirituellen Akt erhoben wird. Wenn jedes Ziehen in der Schulter weltumspannende Bedeutung bekommt, und man erst einmal Stunden damit verbringt, in sich hineinzuhören, bevor man in eine Apotheke geht. Wenn jede Beziehung, die in die Brüche geht, nicht als das wahrgenommen wird, was sie ist – nämlich ein schmerzhafter Verlust, für zumindest einen der Beteiligten – sondern zu einem Projekt, dem man sich nur mit ausreichend Achtsamkeit (mit sich selbst) annehmen muss, damit am Ende alle glücklichere Menschen sein können. Wenn jede zwischenmenschliche Begegnung und jedes Gespräch zum Ringen um Einstellungen wird, einem Kampf um Überzeugungen, und man am Ende doch niemals gemeinsam wirklich in die Tiefe geht, weil das Gegenüber zu konzentriert darauf ist, in sich selbst hineinzublicken.
Vielleicht wäre es an der Zeit, die Suche nach dem Offenen, Zufriedenen und Positivem in einem selbst auch wieder mit dem Verlassen der Ich-Ebene zu kombinieren. Hinein ins Wir. Oder auch mal ins Du. Es ist essenziell, sich nicht nur um sich selbst zu drehen – es ist essenziell, sich in einem gesunden Maß auch um die anderen da draußen zu drehen. Nicht auf zerstörerische Art und Weise, aber mit Respekt, Aufmerksamkeit, Interesse, Empathie, wirklicher Wertschätzung, einer gewissen Demut gegenüber der Verletzlichkeit und Fehleranfälligkeit der Welt. Und auch sich selbst gegenüber.
Autorin
Stephanie Fuchs-Mayr
Stephie schreibt für uns die monatliche Gesellschaftskolumne und erzählt uns Geschichten, die in die Tiefe gehen. Und uns so zum Nachdenken anregen. Mehr über Stephie …
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